Wie gelenkig muß ich sein? Und wie werde ich gelenkiger?

Wie gelenkig muß ich sein? 

Muss ich mit gestreckten Beinen den Boden berühren können?

Was sollte ich tun, wenn ich mich steif und unbeweglich fühle?

Welche Rolle spielen die Faszien für die Gelenkigkeit?

Hilft Faszien Therapie, wenn ich mich steif fühle?

In diesem Blogbeitrag erfahren Sie, wie gelenkig Sie sein müssen und warum Beweglichkeit oft viel entscheidender ist. 

Faszien Training für Beweglichkeit
Der Mensch links trainiert Gelenkigkeit und bewegt sich auch dementsprechend. Der Mensch rechts ist beweglich und wird es auch bleiben.

Gelenkig oder beweglich? 

Viele Menschen fragen sich (und auch oft mich), ob sie sich regelmäßig dehnen sollten. Meistens geht es dabei um die Gelenkigkeit der Beine. Oft messen die Menschen Ihre Gelenkigkeit daran, ob sie mit gestreckten Beinen zum Boden greifen oder in den Spagat gehen können. 

Vorweg noch eine kleine Definition: Gelenkigkeit ist die Fähigkeit Gelenke oder Gliedmaßen im Verhältnis zueinander in bestimmte Winkel zu bringen. Wer Spagat oder mit gestreckten Beinen zum Boden fassen kann ist gelenkig.

Beweglichkeit ist hingegen etwas völlig anderes, nämlich die Fähigkeit des Nervensystems, an einer Bewegung alle Gelenke sinnvoll zu beteiligen. Wenn Sie also mit gestreckten Beine zum Boden greifen können, dann sind Sie gelenkig, aber nicht beweglich. Eine natürlich beweglicher Mensch würde nämlich einfach seine Knie beugen und so die Bewegung biomechanisch korrekt ausführen. Deshalb erkläre ich auf meinen Info-Abenden an Beweglichkeit interessierten Teilnehmern auch immer, dass man gar nicht mit gestreckten Beinen zum Boden greifen können darf. Weil eben das Nervensystem so eine unnatürlich Bewegung gar nicht zulassen und stattdessen frühzeitig die Beine beugen müßte. 

Hier sieht man auch einen Denkfehler vieler Trainingsarten. Menschen, die im Alter nicht steif sein wollen, trainieren ihre Gelenkigkeit mit typischen Dehnübungen. Leider verschlechtert sich aber durch diese Übungen oft die Beweglichkeit, weil man fürs Dehnen oft Gelenke fest hält und sich so unbeweglich steife Bewegungsmuster antrainiert. Also: Wer Spagat kann, der ist zwar gelenkig, aber auch unbeweglich. 

 

Spagat - Ein feuchter Jugendtraum mit bösem Erwachen

Gibt es dennoch Vorteile, wenn man Spagat kann? Mir fallen spontan zwei Sportarten ein, in denen auf Übergelenkigkeit Wert gelegt wird: Kampfsport und Ballet.

Als ehemaliger Taekwon-Do Schüler habe ich auch mal Spagat trainiert, bis ich wie Jean-Claude van Damme zwischen zwei Stühlen sitzen konnte. Solche feuchten Träume sollte man mit Eintritt der Volljährigkeit aber irgendwann hinter sich lassen. In der Selbstverteidigung spielen hohe Tritte zum Kopf jedenfalls keine Rolle. Bis Ihr Bein da oben ist, kann ein Eingreifer Ihnen gleich mehrmals in die Familienplanung treten. Mir hat auch zu denken gegeben, dass ich kaum ältere Menschen in diesem Sport zu sehen bekam und wenn dann waren diese bereits wieder so steif, dass sie mit blutigen Anfängern nicht mithalten konnten, wenn die Anfänger nur jung und sportlich waren. 

Und was das Ballet angeht: Gerade vor kurzem gingen noch Bilder um die Welt von den Tänzerinnen der Pariser Oper. Sie protestierten mit einer Aufführung gegen die aktuelle Rentenreform. Ihr Argument: Durch ihren Tanz sind ihre Körper bereits mit Anfang 40 so geschädigt, dass sie ihren Beruf nicht länger ausüben können. Daher müssen sie auch mit 42 in Rente gehen können. Das sollte einem schon zu denken geben. Dabei ist 42 noch optimistisch. 

Falls Sie sich für Tanz interessieren: Salsa etwa machen Sie für sich und den Spaß an der Musik und Bewegung. Das können Sie bis ins höchste Alter geniessen. Ballett ist nicht für die Tänzer, sondern da werden kleine entbehrlich Zirkuspferdchen trainiert und tanzen dann dem Zar vor. Sind sie Mitte 20 dann körperlich am Ende, werden sie einfach durch andere ersetzt. Viele verbringen dann den Rest ihres Lebens damit, das, was ihren Körper ruiniert hat, anderen beizubringen. 

 

Das nötige Maß an Gelenkigkeit wird durch die Funktion vorgegeben

Wie gelenkig aber muß man sein? Natürlich müssen Sie schon eine natürliche Gelenkigkeit haben, zum Beispiel um Ihre Beine hoch genug heben zu können, um etwa über ein Hindernis zu steigen. Oder Ihren Arm so hoch heben, dass Sie beim Tennis einen Aufschlag machen können. Aber wie gelenkig ist ausreichend gelenkig? Und wie merke ich, dass ich flexibel genug bin?

Antwort: Ihr Beine müssen so beweglich sein, dass sie ihre Funktion als Körperheber erfüllen können. Beim Laufen, Springen, Klettern, Reiten, Skifahren usw dienen Ihre Beine immer dazu, den gesamten Körper zu heben und zu senken und dabei das Gleichgewicht zu halten. 

Sie sind ausreichend gelenkig, wenn Sie in der Lage sind, Ihr Bein soweit  abzuwinkeln, dass es noch jeden Punkt erreicht, von dem aus Sie nach Gewichtsverlagerung Ihren Schwerpunkt heben können. 

Ist der Winkel größer und Sie könnten den Fuß zwar noch auflegen, ihr Gewicht aber nicht mehr stützen und heben, so haben Sie den Punkt nötiger Gelenkigkeit überschritten und sind ausreichend flexibel. 

Was dies in der Praxis bedeutet, erkläre ich Ihnen am besten an einer Kletterwand. 

An dieser Bewegungsfolge sieht man, was funktionelle Gelenkigkeit bedeutet: Das rechte Bein musste ich so weit heben können, dass die Fußspitze au dem weißen Element ruhen kann. Der Gesamtwinkel der Beine und die Armposition erlauben mir in Bild 2, den Körperschwerpunkt so über das Bein zu schieben, dass es anschliessend beugen und den Körper heben kann. So kommt der nächste Griff in Reichweite und ich kann weiterklettern. 

Hier noch ein Beispiel: Der rechte Fuß wird gesetzt. Er liegt hoch, aber nicht zu hoch, um mein Gewicht darauf zu verlagern. Ist dies geschehen, kann ich Kraft ausüben, den Körper stützen und weiterklettern. Das ist funktionelle Beweglichkeit. 

Und so ist es falsch. Ich bin zwar gelenkig genug, um mit der linken Fußspitze das gelbe Element zu erreichen. Das Bein ist dadurch im Verhältnis zum Becken aber zu hoch, um Stützkraft oder Auftrieb zu erzeugen. So blockiert mich das Bein mehr, als das es mir hilft. Ich bin ich zwar gelenkig, aber nicht beweglich, da mich das Bein am Fortkommen sogar eher hindert. Ich habe mich verkettert und muss neu ansetzen. 

Was tut man nicht alles für seine Leser 😉 Diese Positionen verlangen noch mehr Gelenkigkeit, sind aber völlig sinnfrei und dem Fortkommen sogar hinderlich. Also muss man das auch nicht können. 

Also lautet der Merksatz: Sie müssen gelenkig genug sein, Ihr Bein so hoch zu heben, wie es Ihnen einen funktionellen Vorteil bietet. Das ist dann der Fall, wenn Sie Ihren Körperschwerpunkt noch so weit in Richtung des Beines schieben kann, dass es Kraft ausüben und den Körper heben kann. 

 

Ich persönlich mache übrigens niemals irgendwelche Dehnübungen. Bin aber im Klettern oder bei anderen Tätigkeiten immer gelenkig genug. Das liegt daran, dass ich mich viel und vielseitig bewege. Manche Kletterer machen ja Dehnübungen zum Aufwärmen. Ich finde, das ist quatsch, weil diese Übungen gar nicht die Im Klettern erforderlichen Bewegungsmuster abrufen. Ich persönlich beginne einfach mit sehr leichten Routen, die ich langsam klettere. So habe ich bereits meine Koordinationsfähigkeit gesteigert, während andere Menschen noch ihre Beine steif halten. Für mich persönlich jedenfalls funktioniert das bestens. 

 

Welche Rolle spielen die Faszien bei der Gelenkigkeit?

Ein leistungsfähiges Fasziennetz ist einerseits so dehnbar, dass es den Gelenken den nötigen Spielraum bietet, andererseits so fest, dass es vor Verletzungen geschützt ist und ausreichend Energie speichern kann. Ich überlasse es der Forschung einmal festzustellen, ob sich durch regelmässiges Dehnen der Anteil elastischer Fasern in der Faszie ändert, zum Beispiel im Bereich der Adduktoren wenn man Spagat übt. Oder ob der Mensch nur besser die Schmerzsignale des Körpers überhört. Tatsache ist aber auch, dass der Körper weiss, was richtig ist. Wer daher regelmäßig Spagat übt, der spürt oft schon nach wenigen Wochen Dehnpause, dass sich die Gelenkigkeit wieder auf natürliches Mass zurückgebildet hat. 

 

Meiner Erfahrung nach sind Menschen für fast alle Alltagsbewegungen gelenkig genug. Was Ihr Faszien Netz grundsätzlich können sollte, habe ich ja bereits in einem anderen Blogbeitrag dargelegt. Wer sich im Alltag dennoch steif fühlt, der hat oft ein Struktur- und kein Gelenkigkeitsproblem.

 

Steifheit im Hals durch angespannten Bauchraum
Ein verspannter Bauch mindert auch die Beweglichkeit des Halses

 

Was soll ich tun, wenn ich mich steif und unbeweglich fühle?

Wenn sich ältere Menschen steif und unbeweglich fühlen, liegt das oft an zwei Dingen. Erstens an Bewegungsmangel: Wer sich insgesamt zu wenig bewegt, der wird steif. Wenn eine Faszie keine Impulse bekommt, dann weiss sie auch nicht, wie sie sich organisieren soll. Das kennen auch jüngere Menschen schon, wenn sie mal eine Zeit lang ihren Arm in Gips hatten. Man verliert an Koordinationsfähigkeit und Kraft und fühlt sich steif. Daher ist für viele Menschen auch erst einmal entscheidend, dass sie sich überhaupt bewegen. Selbst so sinnfreie Freizeitbeschäftigungen wie Nordic Walking, Gerätetraining oder Pilates sind erst einmal besser als gar nichts tun. Fast immer findet eine Verbesserung im Gesamtbefinden statt, wenn ein Mensch eine beliebige Sportart beginnt. Wem das reicht, der kann einfach wahllos mit der Disziplin loslegen, die ihm als erstes in den Sinn kommt. Er oder sie wird sich damit wahrscheinlich besser fühlen, wenn auch manchmal nur kurzfristig. 

 

Zweitens liegt gefühlte Steifheit auch an Strukturschwächen. Wer zum Beispiel einen angespannten Bauch hat, der hat auch einen unbeweglichen Hals und fühlt sich dort steif. Das können Sie einfach an sich testen: Spannen Sie im Stand oder im Sitzen den Bauch an und lassen Sie das Brustbein sinken. Drehen Sie nun achtsam Ihren Kopf so weit, wie es mühelos möglich ist und merken Sie sich, welchen Winkel Sie erreichen.

Wiederholen Sie nun das Experiment mit entspanntem Bauch und gehobenem, freien Brustbein. Ihr Kopf wird sich mühelos wesentlich weiter drehen können. So ist es übrigens oft: Gefühlte Steifheit in einem Körperteil wird von übermäßiger Spannung in anderen Körperteilen hervorgerufen.

Wer das versteht, der würde nie sinnlos Dehnungsübungen für die Halsmuskulatur machen, wenn die Steifheit im Bauch entsteht. Diese Erkenntnis dürfen Sie nun gerne auf fast alle gängigen Dehnungsübungen übertragen. Insbesondere ist ein steifer unterer Rücken oft nicht in der Lendenwirbelsäule begründet, sondern beruht ebenfalls auf einer im gesamten Körper liegenden Strukturschwäche. Nachhaltige Linderung kann daher auch erst entstehen, wenn diese Strukturschwächen beseitigt werden. Diese zu identifizieren und zu beseitigen ist Aufgabe eines fähigen Faszien Therapeuten.