"Sie haben nichts..."
Immer mal wieder bringen mir Patienten - oft voll durchtherapiert und mit den Nerven am Boden - einen riesigen Stapel Röntgenbilder mit. Damit ich sehe, was sie so haben. Oder sogar noch öfter, nicht haben. Bezeichnend oft haben nämlich Menschen Schmerzen und bekommen von ihren Ärzten gesagt, sie “hätten nichts”.
Diese Diagnose ist natürlich gleich doppelter Unsinn. Wenn ein Mensch Schmerzen hat, dann ist das so. Und dann liegt auch ganz sicher eine Pathologie vor, Schmerz bildet man sich nicht einfach so ein.
Wenn Ihnen also noch mal jemand sagt, sie hätten nichts, dann dürfen Sie gerne antworten: “Falsch, Sie haben es nur nicht gefunden!”.
Dies ist keine Spitzfindigkeit. Manche Patienten leiden darunter, dass sie mangels Befund nicht Ernst genommen werden. Manche werden gar zum Psychologen geschickt. Das dürfte aber nur in den allerseltesten Fällen angezeigt sein.
Tatsächlich haben bildgebende Verfahren als Diagnosemittel neben ihren unbestreitbaren Vorteilen auch Nachteile, die gern übersehen werden.
Bilder sind zweidimensional
Ein zweidimensionales Bild von einem dreidimensionalen Körper zeigt nicht die ganze Wahrheit. Denken Sie dabei zum Beispiel an Menschen mit einer Skoliose. Eine Skoliose ist eine Wirbelsäule, die, statt gerade im Körper zu verlaufen, eine seitliche Abweichung hat. Dies geht immer auch mit einer Verdrehung (Torsion) einher.
Die Seitenabweichung ist auf einem Bild schön zu sehen, wie stark die Torsion ist, ist aber schon viel schwieriger einzuschätzen.
Beides kann man aber wunderbar direkt am Objekt (also Ihnen) sehen. Denn Sie existieren in 3D und man sieht neben der Wirbelsäule auch noch zum Beispiel die Position der Beine, des Beckens, der Schulter und des Kopfes. So kann man sich auch ein direktes Bild vom Verdrehungsgrad der WS machen - ohne teure und ungesunde bildgebende Verfahren.
Bilder zeigen nur den Teil, der wehtut
Wer Rücken- oder Nackenschmerzen hat, der wird in der Regel auch nur dort geröngt, wo es wehtut. Dann schaut sich zum Beispiel der Orthopäde den Zustand der Knochen und Bandscheiben an und vergleicht dieser mit der “Norm”. Wenn dort keine Abweichung zu sehen ist, haben Sie nichts.
Oder Sie haben, wie eigentlich alle Menschen ab 20, abgenutzte Bandscheiben. Na, da kann man nicht viel machen. Am besten erst einmal eine Spritze und dann noch zehn Einheiten Krankengymnastik. Ob hier wirklich eine Kausalität vorliegt, ist nicht zu beweisen. Sicher ist jedenfalls, das man bei Schmerzen immer den ganzen Körper untersuchen und behandeln sollte.
Was ist zum Beispiel, wenn Ihre linke Wade versteift ist und die Schmerzen (mit)verursacht? Das sehen Sie natürlich auf keinem Bild.
Bilder zeigen weder ihr Nervensystem noch Ihr Bindegewebe
Bildgebende Verfahren können Aufschluss darüber geben, in welchem Stadium ein Bandscheibenvorfall ist und ob er operiert werden muss. Auch Schäden am Meniskus können mit Röntgen oder Magnetresonanztomographie bestimmt werden. Solche Diagnosen sind Sache der Mediziner und bei Schmerzzuständen unverzichtbar. Überhaupt soll dieser Beitrag Sie auf keinen Fall dazu anleiten, auf kompetenten medizinischen Rat zu verzichten oder einen solchen zu ignorieren.
Dennoch muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass Muskeln, Bindegewebe und das, was im Gehirn vorgeht auf solchen Bildern nicht zu sehen ist. Dicht beieinander liegende Faszien Schichten können oft “verkleben” (Adhäsion). Sie kennen das vielleicht, wenn Sie mal ein Bein oder einen Arm in Gips hatten. Dann atrophiert nicht nur der Muskel, das Körperteil fühlt sich auch steifer an. Das kann dann an verklebten oder “ausgetrocknetem” Bindegewebe liegen.
Insofern Ihr Arzt andere Gründe ausgeschlossen hat, kann es sich hier lohnen, eine sogenannte Strukturelle Bewegungsanalyse von einem kompetenten Faszien Therapeuten vornehmen zu lassen. Das erfahrene Auge identifiziert solche Adhäsionen anhand Ihrer Bewegungsmuster und kann Sie entsprechend behandeln.
Bilder zeigen nicht, wie Sie sich halten und bewegen
Egal ob MRT oder Röntgen, dem Patienten wird immer genau vorgeschrieben wie er sich zu halten oder hinzulegen hat, damit man auf dem Bild möglichst viel sieht. Genau hierin liegt aber auch ein Problem, wenn sich daraufhin die Diagnose vor allem am Bild orientiert: Die Aufnhame zeigt nicht, wie sich derjenige in der Regel hält und bewegt. Wenn Sie zum Beispiel permanent einen Rundrücken und nach vorne geschobenen Kopf haben, so führt das fast unausweichlich zu Schmerzen.
Werden Sie aber nun zum Beispiel auf dem Rücken liegend in eine Röhre geschoben, dann sorgt die Schwerkraft dafür, dass Sie auf einer harten Unterlage für die Zeit der Aufnahme eben genau diese Haltung nicht einnehmen. Wenn Sie zu hause auch noch auf einer weichen Matratze schlafen, die sich ihrem Rundrücken schön gemütlich anpasst, dann haben Sie vielleicht seit Monaten das erste Mal keinen Rundrücken.
Somit zeigt das Bild dem Betrachter dann einen absoluten Ausnahmezustand, mit vorbildlicher Haltung. Therapeuten und Ärzte, die ihre Diagnose zu stark auf bildgebende Verfahren stützen, können so in die Irre geführt werden.
Dabei ist ein Rundrücken an sich nicht immer schlecht!
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man in Bewegung denken, nicht in Haltung. Eine Haltung ist starr, daher “Totenstarre”.
Solange Sie leben, bleiben Sie hingegen in Bewegung - und wenn es nur die Atembewegung ist. Daher muss der geschulte Therapeut immer Ihre Bewegung, nicht Ihre Haltung beurteilen. Daher heisst es bei uns im Senmotic auch “strukturelle Bewegungsanalyse”.
Das bedeutet, dass wir anhand Ihrer Bewegung auf Faszienstrukturen schliessen und unsere Behandlung anschliessend darauf abzielt, die Funktion, also die richtige Bewegung wiederherzustellen.
Wenn auch ich manchmal von einem Rundrücken spreche ist das daher eine Vereinfachung. Tatsächlich lautet dann die Diagnose, dass der Brustkorb permanent in dieser Position verharrt und zwar insbesondere auch dann, wenn er sich mit einer Bewegung eigentlich öffnen müsste.
Um dies an sich zu erfühlen, stellen Sie sich bitte einmal hin und machen Sie einen Rundrücken. Greifen Sie jetzt mit der rechten Hand in die linke Hosentasche. Das sollte Ihnen leicht fallen, denn hier ist der Rundrücken “richtig”. Geht der Ellebogen nach innen, muss nämlich das Brustbein sinken um der Bewegung Platz zu machen.
Geht der Ellebogen hingegen nach aussen, muss das Brustbein sich heben. Das merken Sie, wenn Sie den Rundrücken halten und mit dem rechten Arm hinter Ihrem Rücken in die rechte, hintere Hosentasche fassen wollen. Da wird jetzt das gesenkte Brustbein hinderlich. Denn geht der Ellebogen nach aussen, so muss sich das Brustbein heben.
Da die meisten Erwachsenen einen steifen Brustkorb haben, können Sie nur eine von beiden Bewegungen entspannt und koordiniert ausführen. Unbewusst vermeiden Sie oft die andere Bewegung und verlieren so an Beweglichkeit und Spontaneität.
Strecken Sie gerne um Vergleich ihre Brust stolz nach vorne und wiederholen Sie den Taschentest. Folgerichtig werden Sie nun feststellen, das es schwieriger wird, die vordere Hosentasche zu erreichen, Sie aber viel leichter an die hintere Tasche kommen.
Wenn Sie das erspürt haben, wissen Sie auch, warum es keine gute oder richtige Körperhaltung gibt, sondern nur mehr oder weniger gut funktionierende Körper. Da sich Ihre Faszien mit und durch Ihr Bewegen formen, verfestigen sich einseitige Bewegungsschemata immer stärker. Wer mit einem eingefallenen Brustkorb durch die Welt geht, für den wird es auch physisch immer schwieriger ihn ausnhamsweise einmal anzuheben. Und so sind ältere Menschen dann oft nicht mehr in der Lage, einfache Alltagsbewegungen auszuführen.
Daher muss auch der geschulte Therapeut nicht nur statisch eine Haltung beurteilen, sondern die Bewegungsschemata seines Patienten analysieren.
Und natürlich gilt es auch, dem Patienten Werkzeuge an die Hand zu geben, sich verlorene Bewegungsmöglichkeiten wieder anzueignen. Das hat natürlich nichts mit Sport oder Training zu tun. Auch nichts mit dem sogenannten Faszientraining (oder Faszienfitness oder Faszienyoga oder Faszienponyreiten).
Hier geht es um das (wieder)erlernen natürlicher Bewegungsmuster. Bei mir lernen Sie das in meinem Online Kurs und natürlich in unserer Kampfkunst.
Nachtrag (24.10.2016) Die "Academy of Medical Royal Colleges" hat gerade eine Liste von 40 Tests und Behandlungen veröffentlicht, die dem Patienten wenig oder gar nicht helfen. Dabei wird, wenn sonst keine Faktoren dies nahelegen, vom Röntgen bei Rückenschmerzen abgeraten ("X-rays for lower back pain, if no other concerning features").
Nachtrag (02.11.2016) Im folgenden finden Sie eine Bewertung meines Online Kurses und zugleich einen kleinen Erfahrungsbericht:
Ich bin noch dabei den Kurs durchzuarbeiten und habe die Übungen des richtigen Gehens zunächst vorgezogen, weil ich ein massives Problem mit dem linken Knie habe und mich deshalb beim Gehen vorwiegend auf das rechte Knie stütze, worauf dieses offensichtlich überfordert auch anfängt Probleme zu machen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese ganze Problematik möglicherweise an einer falschen Gehgewohnheit liegt. Schon nach kaum einer Stunde Gehtrainings-Übung merkte ich, wie die Knie beim Gehen entlastet wurden. Die Übungen fielen mir leicht und erinnerten mich an meine Jungmädchenzeit, als ich gerne hohe Stöckelschuhe trug. Gewiss ungesund einerseits für den Fuß, andererseits tritt man automatisch mit dem Vorderfuß dabei auf. Da hatte ich nie Probleme mit den Knien, das kam erst mit dem Tragen flacher Schuhe. Mit der Ferse zuerst aufzutreten, das ginge mit hohen Stöckelschuhen ja gar nicht. So konnte ich die Gehübungen in Erinnerung an diese Erfahrung sehr schnell nachvollziehen und habe absolut keine Knieschmerzen dabei! Ist doch toll, wenn man überlegt, wie wenig Salben bislang gebracht haben. Nachdem am Röntgen nichts Schwerwiegendes entdeckt wurde, was die Schmerzen begründete, hat mich die Klinikärztin zum MRT geschickt, für das ich Ende April einen Termin bekommen habe. Aber jetzt frage ich mich: Warum kommt denn von den Ärzten keiner auf die Idee, dass Knieprobleme möglicherweise auch nur mit falschem Gehen zu tun haben können? Bin gespannt, was das MRT bringt? Ein hilfreicher Kurs! Ich bin gespannt, was er mir noch bringt, wenn ich die Übungen für die anderen Körperbereiche nachhole. Aber schon jetzt hat sich der Kurs bei meinem akuten Problem gelohnt! Vielen Dank! Ich bin begeistert!
Nachtrag (03. Januar 2017) Gerne möchte ich Ihnen auch den Artikel "Kernspindiagnostik: Wenn aus Kerngesunden plötzlich Kranke werden" auf Spiegel Online plus empfehlen.
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Hullmann (Montag, 11 Januar 2021 17:14)
Sehr geehrtes Team,
Ich habe gerade erfahren, dass mein Vater, wegen seines Rundrucken nicht ins MRT kann.. Der Kopf sollte untersucht werden, da er aber diesen Rundrucken hat würde laut Aussage des Arztes die Untersuchung abgebrochen. Mann konnte da wohl nichts erkennen, da er nicht flach liegt. Meine Frage. Ist das richtig oder ist das Quatsch und mein Vater kann. In einem anderen KH zum MRT? LG. Hullmann
Peter Scholten (Montag, 11 Januar 2021 18:15)
Hallo,
Diese Frage zur Machbarkeit eines MRT kann tatsächlich alleine Ihr Arzt beantworten. Manchmal werden ja eher unnötige Leistungen angeboten, da ist es eigentlich ein gutes Zeichen, wenn mal eine abgelehnt wird �.
Ihrem Vater (und Ihnen) alles Gute!